Neurodiversität und Neurodivergenz

Der Begriff Neurodiversität setzt sich aus den Wörtern "Neuro" (für das Nervensystem) und "Diversität" (für Vielfalt) zusammen. Er beschreibt die neurologische Vielfalt der Menschen. 

Das Neurodiversitätskonzept geht davon aus, dass Unterschiede im Gehirn – wie sie etwa bei Autismus, AD(H)S, Dyskalkulie oder Legasthenie auftreten – keine Defizite sind, sondern normale Variationen der menschlichen Gehirnfunktion. 

Diese Sichtweise fordert ein Umdenken: Weg von Stigmatisierung und pathologischer Betrachtung hin zu Akzeptanz und Wertschätzung. Anstatt neurologische Unterschiede als "Störungen" zu behandeln, betont die Neurodiversitätsbewegung, dass sie Teil der natürlichen Vielfalt sind, die unsere Gesellschaft bereichern.

Ursprung und Bedeutung der Neurodiversitätsbewegung

Die Neurodiversitätsbewegung entstand Ende der 1990er Jahre und lehnt eine pathologische Sichtweise auf Neuro-Minderheiten konsequent ab. Autistische Menschen spielen eine zentrale Rolle in dieser Bewegung. Sie betonen, dass Autismus keine Krankheit ist. Viele Organisationen, die sich für die Rechte von autistischen Personen einsetzen, plädieren für Akzeptanz, Respekt und die Anerkennung dieser Unterschiede als wertvollen Bestandteil unserer Gesellschaft.

Der Begriff "Neurodiversität" wurde von der Soziologin Judy Singer geprägt. Laut ihrem Konzept trägt jede Person zur neurologischen Vielfalt bei. Um diese Vielfalt zu kategorisieren, unterscheidet man zwischen neurotypischen (oder neuronormativen) Menschen und neurodivergenten Personen. Demnach sind diejenigen Menschen neurodivergent, deren neurologische Struktur oder Funktion sich von der Mehrheit unterscheidet.

Wie häufig ist Neurodivergenz?

Obwohl neurodivergente Menschen als Minderheit gelten, ist diese Gruppe größer, als viele denken. Selbst vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 15% der Bevölkerung neurodivergent sind – je nach Definition und den einbezogenen Varianten. Ebenso gibt es oft Doppeldiagnosen und Überschneidungen. Deutlich wird durch diese Zahl, wie wichtig es ist, ein Verständnis für Neurodiversität zu fördern und Barrieren abzubauen.

Neurodivergente Varianten

Neben Autismus gibt es eine Vielzahl weiterer neurologischer Varianten. Jede dieser Varianten beeinflusst die Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen. Allerdings ist es nicht eindeutig, welche Varianten zur Neurodivergenz gezählt werden - die folgenden Varianten zählen zu den am häufigsten genannten:

ADS/ADHS
Das sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) ist eine der häufigsten neurologischen Varianten und betrifft weltweit etwa 5 % der Kinder und 2,5 % der Erwachsenen. Statt eines „Defizits“ handelt es sich bei ADHS und ADS eher um eine variierende Aufmerksamkeitsspanne, die von Hyperfokus bis hin zu Ablenkbarkeit reicht. Menschen mit ADHS haben oft sprühende Ideen, eine hohe Energie und können bei interessanten Themen außergewöhnliche Leistungen erbringen. Die neurologischen Unterschiede führen jedoch auch zu Herausforderungen in der Konzentration und bei der Impulskontrolle.

Legasthenie
Legasthenie betrifft die Fähigkeit, gesprochene Sprache in geschriebene umzusetzen um umgekehrt. Zugang zu Lesen, Schreiben und das Textverständnis erfolgt mit einer anderen Art der Wahrnehmung. Manchmal treten Unterschiede im Lesen, Textverständnis oder Schreiben auch isoliert auf. Legasthenie ist nicht auf mangelnde Intelligenz oder Motivation zurückzuführen, sondern entsteht durch neurologische Unterschiede in der Sprachverarbeitung. Etwa 5 bis 10 % der Weltbevölkerung sind Legastheniker, wobei die Häufigkeit je nach Definition und Messmethode variiert. Legastheniker besitzen oft außergewöhnliche Stärken, wie ein starkes räumliches Denken und kreative Problemlösungsansätze.

Dyskalkulie
Dyskalkulie betrifft die Fähigkeit, Zahlen und mathematische Konzepte zu verstehen, und tritt bei etwa 3 bis 6 % der Bevölkerung auf. Die Ursachen liegen in neurologischen Besonderheiten, die die Verarbeitung numerischer Informationen erschweren. Häufig geht Dyskalkulie mit Legasthenie einher. Menschen mit Dyskalkulie haben Schwierigkeiten mit einfachen Rechenaufgaben oder dem Verständnis von Mengen, bringen jedoch oft kreative und innovative Denkweisen mit, die in anderen Bereichen von Vorteil sein können.

Dyspraxie
Dyspraxie, auch als Entwicklungsstörung der motorischen Koordination (DCD) bekannt, betrifft etwa 5 bis 10 % der Menschen, wobei Jungen häufiger diagnostiziert werden als Mädchen. Sie beeinflusst die Fähigkeit, Bewegungen zu planen und auszuführen, was sich auf fein- und grobmotorische Aufgaben auswirken kann, z. B. Schreiben, Schnürsenkel binden oder Ballspiele. Gleichzeitig sind Menschen mit Dyspraxie häufig kreativ, ausdauernd und stark im Finden unkonventioneller Lösungen.

Hochsensitivität
Hochsensitivität, die bei etwa 15 bis 20 % der Bevölkerung auftritt, beschreibt eine verstärkte Reaktion auf Sinnesreize wie Geräusche, Licht oder Gerüche. Hochsensitive Menschen nehmen ihre Umgebung besonders intensiv wahr und sind oft empfänglicher für Emotionen und Stimmungen. Diese Eigenschaft geht häufig mit einer ausgeprägten Wertschätzung für Kunst, Musik und Ästhetik einher, kann aber auch zu Überforderung in reizintensiven Umgebungen führen.

Stärken

Jeder Mensch ist einzigartig. Oftmals verfügen neurodivergente Menschen über ausgeprägtere Stärken und Schwächen. Im passenden Umfeld kann man folgende Stärken neurodivergenten Menschen zuordnen:


  • Kreativität: Unkonventionelle Denkansätze und innovative Ideen.
  • Hyperfokus: Enorme Hingabe und Energie für Themen, die sie begeistern.
  • Ehrlichkeit: Direktheit und Authentizität im Umgang mit anderen.
  • Hohes Qualitätsbewusstsein: Ein starker Fokus auf Genauigkeit und Präzision.
  • Ausgeprägtes Auge für Details: Die Fähigkeit, auch kleinste Feinheiten zu erkennen.


Oftmals ist nicht die Neurodivergenz die Herausforderung sondern eher die Erwartungen neurotypischer Normen. Die Herausforderungen können ganz unterschiedlicher Natur sein und genau hier zeigt sich die Einzigartigkeit jedes Einzelnen: Was für den einen Menschen eine Stärke ist, kann für den anderen eine Herausforderung darstellen – und umgekehrt.

Der Denkansatz sollte daher immer individuell sein: Neurodiversität bedeutet, nicht in Schubladen zu denken, sondern jeden Menschen in seiner Persönlichkeit und seinen Fähigkeiten zu würdigen. Es geht darum, Potenziale zu erkennen, Barrieren abzubauen und ein Umfeld zu schaffen, in dem jede Person ihre Stärken entfalten kann.

Hinweise zum Sprachgebrauch

Unsere Sprache beeinflusst unser Denken – und umgekehrt. Als Verein möchten wir ein Denken und eine Sprache fördern, die Autismus und andere neurodivergente Varianten als natürlichen Teil der menschlichen Vielfalt betrachtet. Deshalb vermeiden wir bewusst Begriffe wie „Störung“, „Krankheit“, „betroffen sein“ oder „leidet unter“. Solche Ausdrücke stammen aus der medizinischen Fachsprache, die in Fachkreisen zunehmend kritisch hinterfragt wird. Dennoch können diese Begriffe in bestimmten Kontexten, etwa im medizinischen System oder bei der Beantragung von Nachteilsausgleichen, hilfreich oder sogar erforderlich sein.

Ein zentraler Grundsatz unseres Netzwerks ist, dass jeder neurodivergente Mensch selbst entscheiden sollte, wie er oder sie sich bezeichnet. Während einige Menschen ihre Situation als belastend empfinden und dies so ausdrücken, sehen andere ihre Neurodivergenz als wertvollen Teil ihrer Identität. Dieser Unterschied zwischen Selbst- und Fremdbezeichnung sollte stets respektiert werden. 

Unser Ziel ist es, eine respektvolle und inklusive Kommunikation zu fördern, die den individuellen Erfahrungen und Perspektiven Raum gibt.